Transformation Perspectives Series 10

Wie können wir unsere Arbeit sinnvoller gestalten?

 

In diesem Artikel werden wir uns noch einmal vertieft mit dem Thema Polaritäten befassen und die wichtige Frage stellen, wie Arbeit im Spannungsfeld zweier relevanter Polaritätspaare so positioniert bzw. ausgestaltet werden kann, dass sie sinnvoller wird und damit auch zu einem sinnvolleren und erfüllteren Leben beiträgt. In diesen Zusammenhang passt Nietzsches altes Sprichwort: "Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie." Und Viktor Frankl, Holocaust-Überlebender und Psychologe, der das existentielle Streben nach Sinn der Menschen tiefer erforschte, prägte – in die gleiche Kerbe schlagend - den Begriff des "Willens zum Sinn" als elementare Antriebskraft des Menschen.

Viele von uns bemühen sich ja auch um eine sinnvolle Arbeit. Studien haben gezeigt, dass eine als sinnstiftend empfundene Arbeitstätigkeit zu einer besseren Auseinandersetzung mit dieser, einer höheren Arbeitszufriedenheit und -motivation sowie zu Stressreduktion und letztendlich einer höheren Lebenszufriedenheit beiträgt. Sinn in der Arbeit zu finden, ist keinesfalls nur ein "nice-to-have". Wie Studien ebenfalls gezeigt haben, ist Sinn im Arbeitsleben als psychologische Erfahrung für die meisten Menschen so wichtig, dass sie bereit wären, einen erheblichen Teil ihres Geldeinkommens dafür zu opfern. Es ist daher gerechtfertigt zu behaupten, dass es sowohl im Interesse des Arbeitgebers als auch der Führungskraft ist, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem Mitarbeiter - aber auch man selbst in leitender Funktion - mehr Sinn erleben können.

Bei der Suche nach Sinn im Arbeitsleben erweisen sich nun die folgenden zwei Polaritäten als hilfreich und geeignet: 

  • "Selbst vs. Andere" und
  • "Sein vs. Tun"


Das Modell mit diesen beiden Polaritäten zwecks Definition einer sinnvollen Arbeit wurde ursprünglich 2012 von Lips-Wiersma & Morris vorgeschlagen, wir postulieren neu, dass wahre Erfüllung und Inspiration in einem Gleichgewicht zwischen allen oben aufgeführten Polaritäten liegt. Lassen sie uns diese nun genauer betrachten.

Wenn wir uns die Polarität von "Sein vs. Tun"einmal genauer ansehen, stellen wir fest, dass ein starkes Fokussieren auf einen der Pole positive, wie auch negative Konsequenzen nach sich zieht. So wird jemand, der v.a. Gewicht auf die Dimension "Sein" legt, zwar Authentizität ausstrahlen und Wohlbefinden und Akzeptanz erfahren, als Kehrseite davon aber auch mit Trägheit, Selbstgefälligkeit und Stagnation konfrontiert werden. Desgleichen bei einem (allzu) starken Fokus auf das "Tun": Während hier als positive Konsequenzen Erfolg, Tatkraft, Leistung und Zufriedenheit erfahrbar werden, können im Negativen Burnout und Erschöpfung die Folge sein. Eine detailliertere Erklärung wie Sie besser mit Polaritäten umgehen können finden Sie unter "Transformation Perspectives Series Nr. 9".

 Auch bei der anderen Polarität "Selbst vs. Andere" zeigen sich in den Extremen Licht und Schatten: Die positive Ausprägung eines starken "Selbst" steht für Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstausdruck, während sie im Negativen Selbstsucht und Isolation hervorbringt. Fokussiert man hingegen stark auf die "Anderen", wird man in positiver Konsequenz Verbundenheit, Freundlichkeit und ein Aufgehen in der Gesellschaft erfahren. Als negative Konsequenzen drohen wiederum Ausbeutung und Trittbrettfahrertum.

Für beide Polaritäten gilt: Keine kann je aufgelöst werden. Immer wirken zwei gegensätzliche Kräfte gleichzeitig. Das bedeutet, dass es letztlich nicht darum geht, einen Pol über den anderen zu stellen, sondern ein ausgewogenes Verhältnis zwischen beiden zu finden und zu erkennen, wann ggf. die negative Seite eines Pols die Oberhand gewinnt.


Es liegt nun nahe, auf unserer Suche nach Sinn in der Arbeit, die beiden oben beschriebenen Polaritäten zu einem zweiachsigen Modell (Abbildung 1: Sinnmatrix) zu kombinieren. Spannend ist nun zu sehen, wie durch diese Kombination (der positiven Ausprägungen) der Polaritäten jeder einzelne Quadrant einen wichtigen Aspekt einer sinnvollen Arbeits- und Lebensführung widerspiegelt. 

 

Abbildung 1: Sinnmatrix (nach Lips-Wiesma & Morris)

 

 

  • Im Quadranten "Selbst / Sein" (oder "sich selbst sein") fokussiert man darauf, ganz sich selbst zu sein, sich selbst zu (er)kennen, authentisch zu sein und sich als "Ganzes" zu fühlen. Wie können wir mehr von diesem Zielzustand erfahren? Indem wir „bewusst sein“ und das Wahrnehmen der inneren Aktivitäten trainieren. Es geht hierbei darum, bewusst nichts zu tun und dabei auch nicht durch innere Aktivitäten abgelenkt zu werden. Bei Personen, die in einen Gehirn-Scanner geschoben und aufgefordert werden, absolut nichts zu tun, flackert eine Hirnregion auf, die als "default-mode"-Netzwerk bezeichnet wird. Diese Art von Gehirn-Aktivität weist in erster Linie selbstreferenzierende Züge auf, was bedeutet, dass wir in einem solchen Zustand primär an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft denken und dabei mehr oder weniger plausible Geschichten um unsere aktuelle Situation entwickeln, in die unsere Erfahrungen und Konditionierungen einfliessen. Wenn wir nun einige Zeit Meditation bzw. die aktuell vielzitierte "Achtsamkeit" trainierenleuchtet im Scanner ein anderer Bereich unserer Grosshirnrinde auf. Dieser wird als "Insula" bezeichnet und ist mit keiner linearen, zeitbasierten Geschichte unserer selbst verbunden. Er wird aktiv, wenn wir gerade den gegenwärtigen Moment in unserem Körper erleben und in der Lage sind, unsere Empfindungen, Gefühle und Gedanken quasi in Distanz zu beobachten. Diese empfehlenswerte tiefgreifende Erfahrung transformiert, wenn man so will, das die westliche Welt prägende Axiom von Descartes "Ich denke, also bin ich“ in ein deutlich entspannteres "Ich bin, also kann ich denken".
  • Wechseln wir nun den Quadranten und legen den Fokus auf "Tun/Selbst". Hier geht es um den Wunsch, möglichst das volle Potenzial, das in einem schlummert, auszuschöpfen, über den gegenwärtigen Zustand hinauszuwachsen und ein höheres Mass an Selbstverwirklichung zu erreichen. Wichtige Voraussetzungen hierfür sind sicherlich Selbstdisziplin und Ausdauer. Wir wollen darüber hinaus auch unsere eigenen Werte kennen: Was interessiert uns am meisten, was begeistert und erfüllt uns im Leben wirklich? Auch wichtig für ein ausgefülltes "Selbst Tun" ist es zu verstehen, was bei uns "Flight-, Fight- oder Freeze"-Reaktionen in bestimmten Situationen auslöst, die uns beinträchtigen und daran hindern unsere beste Antwort bewusst zu wählen. Dies zu wissen, trägt viel zu einem persönlichen Wachstum und der Entwicklung von Gelassenheit bei. Hier hilft nichts mehr als das gezielt eingeholte Feedback von anderen, mit welchem wir ausserdem unsere Selbstwahrnehmung kalibrieren und unsere "blind spots" erkennen können.
  • Der dritte Quadrant der "Einheit mit anderen" erschliesst das Feld unserer Fähigkeiten und Wünsche, mit den Menschen um uns herum in Verbindung zu treten, Gemeinsamkeiten zu finden und dadurch ein größeres Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln. Hier geht es um den Bereich der eigenen Identität, in welchem die Definitionen von Inklusion und Grenzen wichtig werden. Was auch immer nach den Worten "Ich bin ..." kommt, ist eine solche Identitätserklärung. Ob wir nun Kategorien, Substantive oder Verben auswählen, um uns selbst zu beschreiben - immer hat dies einen großen Einfluss darauf, wie wir uns selbst definieren und das Leben erleben (wenn wir zum Beispiel dazu neigen, Verben als Deskriptoren für unsere Person zu wählen, steht für uns wahrscheinlich der Prozessaspekt unseres Lebens verstärkt im Vordergrund).
  • Zu guter Letzt weist der Quadrant "Tun / Andere" auf unseren Anspruch hin, andere zu unterstützen und bezieht sich auf unser Bestreben, durch unser Wirken zum Allgemeinwohl beizutragen. Ein solch soziales Tun gibt uns Sinn, vermittelt auch Orientierung und schafft Mehrwert für Person und Gemeinschaft. Sich des eigenen Daseinssinns (Purpose) bewusst zu werden sein und diesen mit dem Gesamtzweck des Unternehmens in Verbindung zu bringen, ermöglicht es uns, sowohl für uns selbst als auch mit anderen ein sinnvolleres Engagement zu erfahren.

Das (subjektive) Gefühl, sinnvolle Arbeit zu leisten, ergibt sich in diesem Modell also aus der Erfüllung der persönlichen Bedürfnisse in diesen vier verschiedenen Quadranten. Je nach Schwerpunkt Ihrer Arbeit (und Ihren eigenen Bedürfnissen) werden Sie möglicherweise feststellen, dass bestimmte Quadranten leichter abzudecken sind, während andere schwerer zu erreichen bzw. zu bedienen sind.

Ein wichtiger erster Schritt, um mehr Bewusstsein dafür zu gewinnen, wie Sie in Sachen Sinnerfüllung aktuell stehen, ist es, sich zu fragen, welchen bzw. welche ​​der Quadranten Sie aktuell klar und erfüllt besetzen. Und: In welchen Bereichen bzw. Quadranten besitzen Sie Ihrer Meinung nach noch Luft nach oben bzw. Platz, um mehr Klarheit oder Potential zu realisieren? Und wo sehen Sie als Führungskraft Ihre Mitarbeiter in diesem Raster? Wie könnten Sie sie befähigen, mit diesem Denkansatz mehr Sinn in ihrer Arbeit zu finden?

Das Schöne an diesem Modell ist für uns die Erkenntnis, dass Sinn in der Arbeit verschiedene Dimensionen hat, die man benennen kann und dadurch erreicht werden kann, dass man diese Dimensionen mit den unterschiedlichen Bedürfnissen und Wünschen (bei sich selbst und im Team) in Einklang bringt bzw. diesen genug Raum gibt. Es zeigt auch, dass ein inspirierender Purpose, sei es für eine Organisation oder eine Einzelperson, immer den Aspekt des Beitrags für andere beinhaltet, sei es als Dienst an und/oder im Zusammenspiel mit ihnen.

 

 Dr. Mélanie Huser und Dr. Thomas Gartenmann

Das ist Teil der Transformation Perspectives Series von www.aergon.com